Unterwegs mit der Yamaha XS 1100Die Yamaha XS 1100 auf einen Blick
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Nenn sie bloß nicht Eisenschwein. Nicht im Beisein von Ekkehard Lemke. Obwohl der XS 1100-Liebhaber die bullige Yamaha ebenfalls zu den Schwergewichten der Motorradszene zählt. Weil sie damals die Größte und Schnellste war. Und als erstes Serienbike die magische Tausender-Hubraumgrenze durchbrochen hat.
Wahre Größe zeigt sich auch im Kleinen. In diesem Fall ist es ein unscheinbarer roter Ordner, der es jedoch in sich hat. Darin hat Ekkehard Lemke nahezu alles abgeheftet, was in Deutschland über die Yamaha XS 1100 geschrieben wurde. Sämtliche Prospekte, Datenblätter und alle je veröffentlichten Fahr- und Testberichte finden sich in dieser Sammlung, mittlerweile knapp vier Kilo schwer. Ein echter Schatz für jeden Motorradfan. Und dazu Ausdruck für Lemkes große Verbundenheit zu einem Motorrad, dessen Strahlkraft nie die Intensität anderer epochaler Bikes erreicht hat.
Was vermutlich am stattlichen Auftritt liegt. Die Yamaha XS 1100 erweckt gar nicht erst den Anschein eines Pseudo-Sportlers, wirkt aus jeder Perspektive massig und solide, wie aus dem Vollen gefräst. Dennoch offenbart sie eine gewisse Eleganz, wenngleich der eckige Scheinwerfer, die quadratischen Instrumente und die kantigen Blinker einen etwas herben Kontrast zu den geschwungenen Linien von Tank, Seitendeckeln und Sitzbank setzen. Spontane Begeisterung ernteten die Yamaha-Designer für ihr Werk damals jedenfalls nicht.
Die XS bügelte die Konkurrenz
Schon gar nicht an den Stammtischen, die sportlicher gezeichnete Big Bikes favorisierten, allen voran die gleichzeitig mit der Yamaha gestartete Honda CBX mit ihrem fein verrippten Sechszylinder. Dass die XS 1100 im Frühjahr 1978 der Hubraum-Krösus war, mit gemessenen 223,6 km/h Spitze sämtliche Konkurrenten bügelte und somit das Blaue Band des schnellsten Serienmotorrads eroberte, änderte daran wenig. In den Köpfen blieb vor allem die Kritik am Gewicht und dem schwerfälligen Handling hängen. Ein Vorurteil, das die XS noch heute mit sich herumschleppt.
Merkwürdig. Denn für die eigentliche Zielgruppe, die passionierten Tourenfahrer, wiegen Kardanantrieb, hoher Sitzkomfort oder die wartungsarme Technik viel schwerer als ein paar Extra-Pfunde. Das war damals nicht anders als heute. Außerdem bringen viele aktuelle Bikes noch mehr auf die Waage. Gleichwohl verbietet sich ein leichtfertiger Umgang mit der XS. Insbesondere beim Rangieren. Einmal vom Ausleger des Hauptständers abgerutscht oder aus dem Gleichgewicht gekommen, gibt es kein Halten mehr. Der makellose Sturzbügel von Lemkes 1100er beweist jedoch, dass man nicht zwangsläufig eine Schwarzenegger-Figur braucht, um mit der dicken Yamaha klarzukommen. Sonst hätte der Pforzheimer, der mit verschiedenen XS-Dreizylindern bereits über 100 000 Kilometer kreuz und quer durch Europa getourt ist, vor 15 Jahren nicht zugeschlagen, als ihm diese 1978er-XS angeboten wurde. Damals standen 3000 Kilometer auf dem Tacho – glaubhaft, da die Erstzulassung Ende 1990 erfolgte. Die Jahre davor stand die Yamaha in einem Fotostudio – erst im Weg, dann vergessen in einer Ecke.
So, genug der Bewunderung. Platz genommen auf der herrlich bequemen Sofa-Bank, und aufs Knöpfchen gedrückt. Nur kurz müht sich der Anlasser, dann ertönt sonores Grummeln aus den beiden geraden Schalldämpfern. Klonk – der erste Gang sitzt, unüberhörbar. Mit leicht erhöhter Leerlaufdrehzahl schiebt der Reihenvierer geschmeidig los, reagiert bereits in der Aufwärmphase tadellos auf Gasbefehle. Ein beruhigendes Gefühl, wenn man knapp 290 Kilogramm durch den Stadtverkehr bugsieren muss. Das gelingt im Übrigen leichter, als gedacht. Einmal in Bewegung, scheint die XS etliche ihrer Pfunde abzuwerfen. Auffällig auch, wie kultiviert der in Gummielementen gelagerte Kurzhuber zu Werke geht, lästige Vibrationen sind überhaupt kein Thema.
Rivas
Herr Lemkes ganz persönlicher Feiertag: mit der souveränen Yamaha XS 1100 über einsame Landstraßen gleiten.
Allmählich werden Mensch und Maschine warm miteinander, es geht hinaus aus der Stadt auf weit geschwungene, übersichtliche Landstraßen, dem eigentlichen Revier aller großen Nackten. Auch die XS ist jetzt in ihrem Element, zieht im fünften Gang souverän voran, die lautstarken Gangwechsel sind erst mal passé. Der hohe und recht schmale Lenker zwingt den Piloten allerdings in eine betont aufrechte Haltung – gewöhnungsbedürftig. So dirigiert man die Yamaha eher über die Schultern, was das Kontrollgefühl nicht unbedingt fördert. Ein flacherer und breiterer Lenker läge besser in der Hand, würde aber nicht zum Anspruch des Besitzers passen, die Yamaha im Originalzustand zu belassen. Bis auf Lack, Verkleidung und Stahlflexbremsleitungen hat Lemke an der 1100er tatsächlich nichts verändert. Selbst Federbeine und Gabel blieben bislang unangetastet.
Die XS will mit Konzentration auf Kurs gehalten werden
Verständlich, denn speziell die Forke funktioniert dank harmonischer Abstimmung von Federn und Dämpfung erstaunlich gut, nur das Heck wippt auf holprigen Strecken nach. Kein Drama. Ebenso wenig das leichte Rühren bei hohem Tempo. Oder die viel Handkraft erfordernden Bremsen. Lemke schätzt nicht nur die starken Seiten, sondern akzeptiert auch die schwächeren einer serienmäßigen XS. Außerdem nimmt er sowieso fast nur noch Landstraßen unter die Räder.
Rivas
Standfester Bulle mit Charakter und Manieren: Der laufruhige Vierzylinder geizt nur mit Vibrationen, nicht jedoch mit ausgesprochen souveräner Kraftentfaltung.
Dort gelingt auch einem XS-Frischling nach etwas Eingewöhnung ein sauberer Strich. Voraussetzung ist jedoch die Bereitschaft zum Zupacken, denn der lange Dampfer will konzentriert und mit konsequenten Lenkbefehlen auf Kurs gehalten werden. Hat man sich darauf eingeschossen, findet die XS selbst in engen Spitzkehren die richtige Linie, in denen das Vorderrad wegen des gewaltigen Nachlaufs gerne mal weiter einklappt als gewünscht. Doch mit jeder sauber durchzirkelten Kurve wächst das Vertrauen in den dicken Brocken, zumal die Lastwechselreaktionen des Kardans längst nicht so drastisch ausfallen wie einst beschrieben. Keine Frage, es gibt handlichere und neutraler einlenkende Big Bikes. Aber nur wenige mit solch einem ausgeprägten Charakter. Und der ist nichts für flüchtige Bekanntschaften. Nein, auf die XS muss man sich ganz bewusst einlassen. Erst dann erfährt man wirklich, wie viel Spaß dieses Schwergewicht machen kann.
Rivas
Auch eine XS mag Kurven. Man muss nur konsequent zupacken.
Der wird natürlich maßgeblich vom luftgekühlten Reihenvierer geprägt. Ein prächtiger, kultivierter Antrieb, der unbändigen Schub ab 2500 Touren und eine ausgeprägte Drehfreude mit hoher Zuverlässigkeit kombiniert. Und damit eine Souveränität an den Tag legt, die sich automatisch auf den Fahrer überträgt. Der verwaltet das üppige Leistungsangebot ab Tempo 50 am liebsten im fünften Gang. Schon wegen der bereits erwähnten Schaltgeräusche. Doch mit zunehmender Erfahrung klappen sogar Gangwechsel fast geräuschlos, bei höheren Drehzahlen hilft ein leicht vorgespannter Fuß am Schalthebel. Man muss sich halt nur intensiver mit der XS auseinandersetzen. Dann relativiert sich so manches Vorurteil.
Die Yamaha XS 1100 ist eben kein leichtes Mädchen für alle, eher ein dicker Kumpel für Kenner und Könner. Und nur denen offenbart sie bei aller Masse auch ihre Klasse. Ekkehard Lemke weiß das, seit vielen Jahren schon. Könnte also sein, dass noch ein paar Seiten dazukommen, in seinem roten Sammel-Ordner.
Yamaha XS 1100 im Detail
Rivas
Die Yamaha XS 1100 unter der Lupe.
(1978-1983)
Preis 1978: 9835 Mark
Daten (Typ 2H9)
Motor:
Luftgekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, zwei obenliegende Nockenwellen, zwei Ventile pro Zylinder, über Tassenstößel betätigt, Hubraum 1104 cm³, Leistung 70 kW (95 PS) bei 8500/min, max. Drehmoment 90,3 Nm bei 6000/min
Kraftübertragung:
Mehrscheiben-Ölbadkupplung, Fünfganggetriebe, Kardanantrieb
Fahrwerk:
Doppelschleifenrahmen aus Stahlrohr, Telegabel vorn, Ø 37 mm, Zweiarmschwinge hinten, zwei Federbeine, Reifen 3.50 V 19 vorn, 4.50 V 17 hinten, Scheibenbremsen vorn, Ø 298 mm, Einkolben-Schwimmsattel, Scheibenbremse hinten
Maße und Gewicht:
Radstand 1545 mm,
Gewicht vollgetankt 286 kg
Vmax: 224 km/h
Technik
Während die japanischen Konkurrenten 1978 bei ihren 1000er-Spitzenmodellen die sportliche Note betonten, hatte Yamaha mit der XS 1100 eher die Tourenfraktion im Visier. Als Nachzügler bei den Big Bikes musste Yamaha beim Hubraum eine Schippe nachlegen, um im eskalierenden Leistungswettstreit bei der Musik zu sein. Im Gegensatz zu den Mitbewerbern setzte Yamaha auf einen zweifach umgelenkten Kardanantrieb. Und orientierte sich damit am technischen Konzept der dreizylindrigen XS 750. Im Inneren des völlig neu konstruierten, 58 Zentimeter breiten Triebwerks geht es jedoch eher konventionell zu. Wie bei der XS 750 wälzt sich auch bei der 1100er eine einteilige Kurbelwelle in Gleitlagern, treibt hier jedoch über eine mittig platzierte Rollenkette die beiden obenliegenden Nockenwellen an, welche über Tassenstößel die jeweils zwei Ventile pro Zylinder betätigen. Die Gemischaufbereitung übernehmen 34er-Mikuni-Gleichdruckvergaser, am linken Kurbelwellenstumpf sorgt eine kontaktlose CDI-Zündung mit Unterdruckverstellung für den passenden Funken. Per Zahnkette wird die Leistung auf die Vorgelegewelle und von dort auf die Hauptwelle mit Mehrscheibenkupplung übertragen. Vom klauengeschalteten Fünfganggetriebe, einer verstärkten Variante des XS 750-Schaltwerks, geht die Kraft weiter zum ersten Winkeltrieb und von dort über die mit Torsionsdämpfer versehene Kardanwelle ans Hinterradgetriebe. Das konventionell gezeichnete Fahrgestell mit Doppelschleifenrahmen, Telegabel und zwei Federbeinen wartet mit einem Superlativ auf: Mit einem Radstand von 1545 Millimetern war die XS 1100 damals eines der längsten Motorräder, zudem sollten 130 Millimeter Nachlauf einen stabilen Geradeauslauf garantieren.
Checkpunkte
Auch wenn die XS 1100 zu den robustesten Konstruktionen ihrer Epoche zählt, gehen knapp 35 Jahre nicht spurlos an ihr vorüber. Bei Bikes, die im Normalfall weit mehr als nur eine Erdumrundung absolviert haben, ist Verschleiß an sämtlichen Bauteilen natürlich ein Thema, ebenso typische Standschäden bei wenig gelaufenen Exemplaren. Recht überschaubar sind dagegen die besonderen Schwachstellen der XS. Dazu zählen insbesondere die rostanfällige Auspuffanlage, Zündaussetzer durch gebrochene Kabel zum Zündgeber, Kontaktschwierigkeiten an elektrischen Verbindungen, Defekte an der Regler/Gleichrichter-Einheit, Ölaustritt am Steuerkettenspanner und (seltener) an Zylinderkopf- und Fußdichtung. Als Folge übermäßiger Fertigungstoleranzen rastet mitunter der zweite Gang nicht mehr richtig. Vorsicht also, wenn dieser beim kräftigen Beschleunigen herausspringt, die Reparatur ist teuer. Das gilt ebenso bei durchgefaulten Rahmenrohren. Auffällig in dieser Hinsicht ist speziell der linke Unterzug, weil sich hier beim Abstellen auf dem Seitenständer Wasser sammeln kann, das über nicht durchgehende Schweißnähte im Lenkkopfbereich eindringt. Kostspielig ist ebenso die Reparatur eines defekten Anlasserfreilaufs.
Markt
Bodenständige Zielgruppe, bodenständige Preise – bei der XS 1100 trifft dies zu. Während die zeitgleich gestartete Honda CBX zu abgehobenen Liebhaberpreisen gehandelt wird, liegt das Preis-niveau der XS deutlich darunter: Selbst gepflegte 1100er mit Laufleistungen unter 40 000 Kilometern wechseln meist für weniger als 4000 Euro den Besitzer.
Foren
Um die große XS kümmert sich eine rührige Szene. Hier eine kleine Auswahl mit weiteren Links: www. xs1100-forum.de, www. xs1100-frw.de, www.xs1100.org, www.xs1100.co.uk
Historie
1979: Anlass für dieses vollverkleidete Sondermodell war der TT-Sieg von Mike Hailwood auf einer von Martini gesponserten Yamaha. Für Deutschland gab es 150 Stück. Preis: 12 556 Mark.
1981: Um 14 Kilo speckte die XS 1100 S ab. Zum Sportler wurde sie trotz luftunterstützter Gabel, 15-Liter-Tank und Windschutz aber nicht. Preis: 10 758 Mark.